Gerhard Mercator zum 400. Todesjahr 
Zuerst veröffentlicht in PM 4 / 36. Jg. 1994.
Ist das Rätsel der Mercator-Karte AD USUM NAVIGANTIUM 1569 gelöst?


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1Gerhard Mercator wurde am 5.3.1512 in Rupelmonde an der Schelde in Ostflandem geboren; er starb am 2.12.1594 in Duisburg.

Erzogen bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben in 's-Hertogenbosch, schickte ihn sein geistlicher Onkel 1530 auf die katholische Universität zu Löwen. Ein zweijähriges Universitätsstudium schloß er so sagen viele seiner Biographen - mit dem Magister-Examen ab.

Der nur vier Jahre ältere Gemma Frisius entdeckte seine handwerklichen Fähigkeiten und zog ihn bei der Herstellung seines Erd- und Himmelsglobus heran. Gemma riet ihm, sich in mathematischen und astronomischen Dingen im Selbstunterricht fortzubilden: Noch im Jahre 1581 berichtet Gerhard Mercator über dieses Selbststudium, das ihn bis zum sechsten Buche der Elemente des Euklid (über die Proportionen) führte. Gleichzeitig erlernte er die Techniken des Feldvermessens, des Kartierens und Kupferstechens und trat schon 1537 mit einer eigenen Karte vom Heiligen Land an die aufhorchende Öffentlichkeit.

Mit seinem eigenen Erdglobus gelang ihm 1541 der Durchbruch. Da ihm beim Studium der Karten der Entdeckungsreisen die Probleme der "modernen Seefahrt" bekannt geworden waren, trug er zur Überraschung vieler - man schwieg sich über die Neuerung aus, weil man sie offenbar nicht verstand - auf den Meeren ein System von Kurven auf, das den Windrosen der Seekarten vollkommen entsprach.

Allerdings mit dem einen Unterschied: 
  • die Seekarten, Plattkarten in der Art der Marinus-Karten, gaukelten den Seefahrern Kompaß-geleitete Kurse als geradlinige Kurse vor, die in Wahrheit - wie sie nun auf dem Erdglobus des Gerhard Mercator zutreffend erschienen - gekrümmte Linien sein mußten.


2   Schon Pedro Nunes, der große portugiesische Mathematiker und Kosmograph des Königs von Portugal aus Coimbra, hatte zwischen 1533 und 1537 in der Auseinandersetzung mit den Steuerleuten und Kosmographen in Lissabon, die nach einer immer wieder verbesserten General-Karte die neuen Seekarten zu zeichnen hatten, deutlich gemacht, daß Kurse auf Hauptkreisen verschieden seien von Kursen auf "Kompaßgleichen", die von den Steuerleuten mit Kursen nach Windstrichen verwechselt wurden. Aber so richtig hat damals niemand den vortragenden Professor für Mathematik und Astronomie verstanden. 

Ob Gerhard Mercator aus dieser Auseinandersetzung -1537 in Lissabon veröffentlicht - gelernt hat, weiß man bis heute (leider) nicht. Er hat sich auch selbst nie zu dieser Frage geäußert; daß aber die Arbeiten des Pedro Nunes in zwei Jahren von Lissabon über Antwerpen nach Löwen gekommen sein können, ist nicht auszuschließen. 

Wie dem auch sei: weder wurden die Seekarten durch die Kosmographen aus nautischer Sicht
verbessert, noch verhalf Pedro Nunes seinen Ideen zum Durchbruch: Erst 1566 veröffentlichte er in seinen Opera, wie man die Kompaßgleichen, die Snellius 1605 als "loxodromische" (griech. schiefläufige) Kurven - im Gegensatz zu den "rechtläufigen" auf Hauptkreisen (griech. orthodromen) - bezeichnete, auf der Kugel aus Hauptkreisstücken entstehen lassen könnte. (In den zugehörigen Rechnungen unterlief ihm dabei ein Fehler, den Simon Stevin später (1605) rügte: er nahm bei der Anwendung des sphärischen Sinussatzes an, daß der Sinus eines Bogens diesem proportional sei.) Von einer Abbildung der Kugel auf die plane Zeichenebene, die die Kompaßgleichen der Kugel (die Loxodromen) in Geraden überfuhren würde, ist bei Nunes nie die Rede. Die Geschichte überläßt Gerhard Mercator beides: das Aufbringen der Loxodromen auf den Globus wie die im Äquator längentreue Abbildung (Projektion im weiteren Sinne) der Kugel, die die (doppeltgekrümmten) Loxodromen (der Kugel) in Geraden (der Ebene) überführt.

3  Da Gerhard Mercator sich weder über die Konstruktion der Kugelloxodromen noch über die Herstellung seiner Weltkarte von 1569 AD USUM NAVIGANTIUM - zum
Gebrauch für die Seefahrer eingerichtet - ausgesprochen hat, haben eine Reihe von Untersuchungen seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts versucht '), zumindest das "Rätsel der Seekarte von 1569" zu lösen: 

Wie hat Gerhard Mercator  "die Karte der wachsenden Breitenabstände" konstruiert?


"Man spricht von einem wissenschaftlichen Rätsel, wenn eine Frage die verschiedenartigsten Lösungsversuche erfahren hat, ohne daß eine derselben als die richtige allgemein anerkannt ist." Mit diesem Satz leitete Hermann Wagner 1895 seinen Vortrag in der dritten Sitzung des XI. deutschen Geographentages über das Rätsel der Kompaßkarten ein.

Nur wenig später formulierte er den Ausgangspunkt kritischer Wissenschaftlichkeit mit dem Gedanken: "In der gesamten Naturforschung gilt ein Gesetz, das die Theorie zur Erklärung der
Erscheinungen ersonnen, nur dann für erwiesen, wenn es sich an Hand der Erfahrung und des Experimentes bewährt hat. Liegt es darum nicht nahe - fahrt er fort -, jene Karten [die  Portolane: Ungraduierte Seekarten] einmal selbst sprechen zu lassen ..."?

Im Verlaufe seines Vertrages erinnerte Hermann Wagner an die "vergleichende Betrachtung von Karten mit Messung derselben", "Kartometrie" genannt, die man nicht nur beim infrage
stehenden Rätsel der Abbildungsart der Portolane heranziehen sollte.

Er selber übte diese Methode der Kartometrie dann auch 20 Jahre später, um das zweite große Rätsel der Kartengeschichte: die Entstehung der Weltkarte Gerhard Mercators, in Augenschein zu nehmen.

Allerdings lag den Untersuchungen Hermann Wagners im Jahre 1915 kein Originaldruck der Weltkarte zugrunde. Aber auch seine Vorläufer in der Frage nach der Methode Gerhard Mercators: Arthur Breusing, Adolf Nordenskiöld, Siegmund Günther, wie seine Nachfolger Max Eckert, Paul Diercke, Fernand Marguet, Fontoura da Costa und Bruno Kyewski hatten keinen unmittelbaren Zugang zu dem am besten erhaltenen, nicht-kolorierten Exemplar gefunden, dem Baseler Exemplar der Mercatorkarte AD USUM NAVIGANTIUM von 1569. 

Breusing hatte 1869 von A.M. d'Avezac unvollständige Meßwerte erhalten, die am - damals einzig bekannten - Pariser Exemplar [P.E.] gewonnen worden waren. Marguet und Diercke, aber auch Nordenskiöld haben das P.E. ihren Überlegungen zugrunde gelegt, Marguet recht ungenau, Diercke mit größerer Akribie. Nordenskiöld dagegen versuchte - so hat es den Anschein nur einen rechnerischen Zugang; Günther und Fontoura schlossen sich den Überlegungen Nordenskiölds an; Kyewski folgte den Gedankengängen Marguets und Wagners. Wagner dagegen legte am Ende einer vergleichenden Betrachtung seinen kartometrischen Analysen im wesentlichen das Faksimile des damals noch vorhandenen - und 1889 entdeckten - Breslauer Exemplars zugrunde. Diese kartometrische Analyse Hermann Wagners zeigte dann auch in aller wünschenswerten Klarheit und Deutlichkeit, daß die Betrachtung vom Standpunkt der höheren Analysis nur dazu führen konnte, Gerhard Mercators Unternehmen als mehrfach reparatur-bedürftig hinzustellen: die - in der Tat vorhandenen, aber nebensächlichen und auf die Gesamtanlage sich nicht auswirkenden - (Stich-)Fehler wurden zum Teil nicht erkannt, nicht vorhandene Konstruktionsmängel wurden in einem theoretischen Konzept behoben, "aufgelöst". An der Leistung des Entwurfs durch Gerhard Mercator selbst zweifelte man zuerst einmal nicht.

5  Im Jahre 1917 brachte J. Drecker die Vermutung auf, daß schon Erhard Etzlaub (spätestens) seit dem Jahre 1511 im Besitze der konstruktiven Möglichkeiten der später dann
sogenannten "Mercator-Projektion" gewesen sei. Genauere Analysen wissenschaftsgeschichtlicher wie - theoretischer Natur erbringen allerdings den Nachweis, daß Drecker - und mit ihm Eckert - irrte.

6  Als D. Gernez 1937 in einer vergleichenden Untersuchung vor der Akademie der Belgischen Marine alle bis dato vorgeschlagenen Lösungsansätze vortrug, wurde klar, daß das
Rätsel der Mercator-Abbildung von 1569 noch keineswegs aufgelöst war. Gernez selber widerstand der Versuchung, einen eigenen Lösungsansatz darzulegen.
 

Nun muß man in aller Deutlichkeit sagen, daß keine der versuchten Lösungen von ihrem Ansatz her eine Lösung zu bieten in der Lage war; selbst die konstruktiven Vorschläge Breusings, Wagners, Eckerts, Dierckes, Marguets und Kyewkis konnten dem Rätsel nicht abhelfen: alle haben sich nicht um den mathematischen Kenntnisstand Gerhard Mercators besorgt gezeigt und haben stets nur den Versuch unternommen, das Netz der Karte von 1569 vom Standpunkt der erst 1696 (Edmund Halley) vollendeten analytischen Theorie der loxodromischen Trigonometrie aus zu betrachten.

Ü AB = 5°-Äquatorlänge · sec (62.5°)

Hätte man - wie 1992 geschehen - das hervorragend erhaltene Baseler Exemplar einer genauen Messung unterzogen und bei den Rekonstruktionsversuchen den mathematischen Wissenstand Gerhard Mercators in Rechnung gesetzt - also wesentlich didaktische Fragen an die Geschichte gestellt -, so wäre man gewiß schon damals einer Lösung des Rätsels von 1569 nähergekommen. 

7  Didaktische Überlegungen zur unterrichtlichen Behandlung der Mercator-Projektion zeigten dann in der Mitte der 60er Jahre - nachdem Bruno Kyewski, Schüler (des Abiturjahrgangs 1930) und späterer Lehrer am Mercator-Gymnasium in Duisburg, seine langjährigen Forschungen über die Globus-Loxodromen zum 450. Geburtstag Gerhard Mercators 1962
veröffentlicht hatte - , daß sich eine Methode finden lassen mußte, die Brücke zu den mathematischen Kenntnissen Gerhard Mercators zu schlagen.

Einen solchen Versuch hatte 1913 schon Josef Müller-Reinhard in der "Beilage zum Bericht über das Schuljahr 1912/13" des Königlichen Gymnasiums zu Duisburg veröffentlicht, - er arbeitete zu dieser Zeit als Autor der Kapitel über die geographisch-kartographischen und geomagnetischen Studien Gerhard Mercators an dessen zweiter, großer Lebensbeschreibung mit. Er lehnte sich - ohne ihn zu nennen - an den Vorschlag Arthur Breusings an, der in einer vorzüglichen Überlegung die 10°-Äquator-Länge - fälschlich - zu 54 mm rekonstruiert hatte, die d'Avezac ihm 1866 vergessen hatte mitzuteilen. Allerdings setzt dieser Rekonstruktionsversuch voraus, daß Gerhard Mercator die Trigonometrie der Sekansfunktion gekannt habe, - was - mit Gewißheit - nicht der Fall gewesen ist.

8  Zieht man geographiehistorisch längst bekannte Tatbestände zur Entstehung der See- und Weltkarten heran, so stößt man nicht erst bei Pedro Nunes auf die Fehlerhaftigkeit der Marinus-Plattkarten. Schon Ptolemäus hatte in seiner Geographie davon gesprochen, daß man die Verzerrungen in der Marinus-Abbildung der Oikumene dadurch abmildem könne, daß man an die Stelle der General-Karte, die die gesamte bekannte Welt (Oikumene) abbildet, Zonen-Karten ("klimatische" Karten) setzen könnte, die dadurch ausgezeichnet wären, daß wenigstens ihr Mittelparallel im richtigen Verhältnis zum Äquator(maß) stünde. 


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Auch Nunes hatte diese Empfehlung an seine kartenentwerfenden Kosmographen  weitergegeben, - aber keiner folgte ihm, so wie auch Ptolemäus seiner eigenen Empfehlung nicht nachkam: Schließlich schlug er im 24.Kapitel seiner Geographie zwei wesentlich andere Abbildungsarten als Marinus-Abbildungen vor. Diese Vorschläge wurde dann im 15. und 16. Jahrhundert in den großen "Ptolemäen", den gedruckten Ausgaben seiner Geographie, in die Tat umgesetzt; die Seekarten blieben von Marinus-Typus.

Auf der Suche nach einem Verfahren, immer bessere Karten - insbesondere Seekarten - herstellen zu können, gelang Gerhard Mercator erst rund einVierteljahrhundert nach dem epochalen Erscheinen seines Erdglobus der weitere Durchbruch: Die Idee der Zonenplattkarte des Ptolemäus zusammen mit seinem Wissen um die Ähnlichkeitslehre des sechsten Buches der Euklid-Elemente führten ihn zur Entdeckung des normalachsigen winkeltreuen echten Zylinderentwurfs - wie die Kartographen heute sagen, schlichter und in Mercators Absicht gesagt: die Abbildung der Kugel AD USUM NAVIGANTIUM, was eben nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als die doppeltgekrümmten Loxodromen der Kugel, die Kompaßgleichen, die alle Meridiane unter demselben Winkel schneiden, in der Ebene als Geraden mit derselben Eigenschaft abzubilden.

9  Marinus von Tyros - er "blühte" um 100 n.Chr. machte den Vorschlag, den Globus auf einen ihn im Äquator berührenden Zylinder ('normalachsig') abzubilden. Er verbesserte - nach Ptolemäus - seinen Vorschlag aber sogleich dadurch, daß er den Zylinder durch die Breite von Rhodos hindurchgehen ließ, so daß die Oikumene nicht von einem quadratischen, sondern von einem „echt" rechteckigen Netz von einander senkrecht schneidenden Meridianen und Breitenkreisen überzogen wurde. Nimmt man nun mit Gerhard Mercator den Lehrsatz Euklids zuhilfe:

  • In winkelgleichen Dreiecken stehen die Seiten um gleiche Winkel in Proportion, und zwar entsprechen einander die, die gleichen Winkeln gegenüber liegen.


so ist der vorstehenden Figur die Näherungskonstruktion der vergrößerten Breitenabstände unmittelbar zu entnehmen. Gerhard Mercator beschrieb selbst in der Legende An den geneigten Benutzer der Wehkarte den mathematischen Gehalt seiner Entdeckung - in Worten, wie es seine Art in mathematischen Dingen war - wie folgt:

"Wenn drei Orte [in einer Plattkarte] auf derselben Seite des Äquators gelegen sind, so daß sie ein Dreieck bilden, und wenn die beiden äußeren zum mittleren in bezug auf Richtung und Entfernung gegeben sind, so ist es [in der Plattkarte der Seefahrer] ein Ding der Unmöglichkeit, daß auch diese beiden ihre gehörige Lage zueinander [richtig] erhalten.
Da wir dies bedacht haben, haben wir die Breitengrade [die Breitengradabstände] zu beiden Polen hin allmählich vergrößert im Verhältnis zum Anwachsen der Breitenparallen[abschnitte] über das Maß hinaus, welches sie zum Äquator[abschnitt] haben. Dadurch haben wir folgendes Resultat erreicht:
Wenn zwei, drei oder auch mehr Orte so gegeben sind, daß von den vier Größen Längenunterschied, Breitenunterschied, Entfernung und Richtung, die zwischen zwei Orten bestehen können, auch nur zwei bekannt sind, beliebig welche, so treffen auch die beiden anderen zu; und nirgendwo wird sich der Fehler einstellen, der notwendigerweise in den üblichen Seekarten auf vielfache Weise mit Vorliebe in den größeren Breiten begangen wird."
In diesen Sätzen liegt die vollkommen klare Einsicht in die Theorie wie die Praxis der 'normalachsigen, im Kleinsten ähnlichen echten Zylinderabbildung' offen zu Tage, - keiner der Altvorderen und keiner seiner Zeitgenossen konnte etwas Gleichwertiges bieten. In den Worten "haben wir allmählich vergrößert" (paulatim auximus) liegt einerseits die Größe, andererseits die Tragik des Unterfangens Gerhard Mercators: Er war sich im Klaren darüber, daß er - einerseits - in kleinen bis kleinsten Schritten vorzugehen hatte - und - andererseits - keinen "exakten Beweis" vorlegen konnte. Er ließ daher seinen ersten Biographen (und Nachbarn), Walter Ghim, 1595 sagen: Seine Lösung "entspricht der Quadratur des Kreises so trefflich, daß nichts zu fehlen scheint außer dem fehlenden Beweis - wie ich es mehrfach aus seinem eigenem Munde gehört habe."

D. h. Gerhard Mercator sah sich außer Stande, seine Näherungskonstruktion durch ein "exaktes" Verfahren zu ersetzen, - und teilte wohl deshalb der wissenschaftlichen Mitwelt sein
Konstruktionsverfahren nicht mit: 


10  Der entscheidende Übergang von der Marmus-Projektion zur Weltkarte liegt in der richtigen Deutung der Figur MED È EGF.

Eine nur auf die Idee der Proportion gegründete Konstruktion der "vergrößerten Marinus-Breiten", eben der "Mercator-Breiten" liefert die "Übersetzung" des o.a. Legendensatzes in die Sprache der Mathematik: 
 
D MED » D EGF


Je kleiner Ð FME, desto "ähnlicher" sind D MED und D EGF:
 

EG  : EF  »  EF : MD
EG  » EF · ME / MD


Nun ist aber ME / MD derselbe Faktor, der MD nach MH = ME streckt:
 

ME  = MH = MD · ME / MD.


Das heißt:

  • Werden die Breitenkreise ihrem neuen Maß entsprechend genau so groß wie der Äquator, so sind die Breitenabstände FE - das sind die Bögen FE - mit dem jeweiligen Faktor ME / MD = sec (j) = 1 / cos (j) zu vergrößern: 
  • gradus latitudinum [EF] versus utrumque polum paulatim auximus [gl · {ME / MD}] pro incremento parallelorum [ME / MD] supra rationem [MD / ME] quam habent ad aequinoctialem.


Gehen wir - wie Gerhard Mercator - in l°-Schritten vor, reduziert sich der Fehler auf die Größenordnung eines halben Grades. Wir dürfen annehmen, daß Gerhard Mercator den Fehler weiter dadurch verkleinerte, daß er die in der Nautik seiner Zeit geübte Mittelbreitenrechnung ansetzte: 

  • In einem Breitenintervall [a | b] ging man bei Breiten-, Längen- und Entfemungs-Messungen weder von der unteren noch von der oberen Breite aus, sondern benutzte die "Mittelbreite" (a + b) / 2.


Das nach dem folgenden Verfahren konstruierte Mercator-Netz stimmt - fehler- und korrelationsstatistisch betrachtet - einerseits mit der Folge der Meßwerte der Baseler Karte und andererseits mit den auf zehntel Millimeter reduzierten theoretischen Werten der loxodromischen Trigonometrie - um zeichnen zu können - so gut überein, daß (für uns) kein Zweifel mehr an der Lösung des Rätsels besteht:
 

  1. Wir zeichnen einen Quadranten (=Viertelkreis) mit r = 315 mm: die Baseler 10°-Äquatorlänge ist (wie die in Paris) gerade 55 mm groß. (Das rheinische Maß 'Fuß' beträgt 313.9 mm.)
  2. Wir zeichnen von 0.5° ausgehend in l°-Schritten Zentralen:  0.5°, 1.5° ... .
  3. Wie in der oben angezeigten Figur im groben Raster von 10°-Abständen an der Zentralen ME praktiziert, errichten wir in jedem Zentralen-Kreis-Schnittpunkt E die Senkrechte, die die nächste Zentrale MF in G schneidet: EG ist die betreffende "Mercator-Breite" der Breite F.


11  Die schematische Konstruktion reicht völlig aus, um die Lösung der nautischen Aufgaben nachzuvollziehen. Die folgenden Abbildungen verstehen sich fast von selbst, wenn man bedenkt, daß die "Mercator-Kursdreiecke" - in der Nautik die "vergrößerten Kursdreiecke" genannt - den "wahren Kursdreiecken" (am Äquator) jeweils ähnlich sind. Die schematisierte Rektifikation der Loxodromen halten wir für die überzeugendste Antwort auf den Vorwurf, Gerhard Mercator habe seine Konstruktion selber nicht verstanden. 


Da die Mercator-Abbildung die Darstellung der Pole nicht zuläßt - sec (90°) = oo -, zeichnete Gerhard Mercator in der südwestlichen Ecke seiner Weltkarte eigens eine speichentreue azimutale Karte des Nordens nach aus dem Mittelalter stammenden (sagenhaften) Informatio-
nen über das nördliche Polargebiet. Über den Südkontinent, dessen Existenz Gerhard Mercator aus naturphilosophischen Gründen glaubte ableiten zu können, über die terra australis, gab es damals noch keine Informationen; Australien war noch nicht entdeckt. Die mittelabstandstreue Azimutalprojektion stammt selbst nicht von Gerhard Mercator, obgleich sie ihm oft zugeschrieben wird. Juan Vespucci, ein Neffe des Amerigo Vespucci, benutzte sie 1524 zum ersten Mal.

12  Die Lösung der nautischen Aufgaben hat Gerhard Mercator in den Legenden Brevis usus organi directorii (Kurze Einweisung in den Gebrauch der Kurstafel) und Distantiae locorum mensurandae modus (Die Methode Ortsdistanzen zu messen) aufgeschrieben. 
Er nimmt in diesen Anweisungen konstruktiv die Lösungen der näherungsweise rechnenden loxodromischen Trigonometrie seit Snellius (in Anschluß an Edward Wright 1599) vorweg.
 
1998: Erstaunlicherweise hatte John Dee schon im Jahre 1557 eine Zuordnung zwischen den Längen und den ihnen zugeordneten "vergrößerten" Breiten je Windstrich tabelliert, die aber in seinen Manuskripten im wesentlichen ein verborgenes Dasein führte, weil er mit ihrer Hilfe keine neue Plattkarte entwerfen wollte, sondern sie nur benutzte, um als advisor der Muscovy-Company das rechte Segeln unter Zuhilfenahme des Kompaß zu lehren.
Vgl. jetzt meine Abhandlung John Dee ... .


In der südöstlichen Ecke seiner Weltkarte bildet Gerhard Mercator, um die nautischen Aufgaben übersichtlich lösen zu können, einen Quadranten seiner Weltkarte (etwa im Verhältnis 6 : 15) ab 

In den beiden Punkten (0° | 0°) und (0° |75°) trägt er die Windstriche der Seeleute an und schlägt vor, die Mittelpunkte der Windstrichbüschel zu durchbohren und durch die Löcher Fäden hindurchzuziehen, die die Richtungen leichter abschätzen lassen, wenn man sich eines Zirkels bedient, um Parallelitäten besser erkennen zu können. Trägt man den "Standort" A seiner Breite nach auf der Länge 0° ein, so läßt sich das Ziel B auf Grund der gegebenen Längen- und Breitendifferenzen eintragen. Spannt man nun den Faden oben oder unten - je nach Lage von A und B - parallel zur Richtung von A nach B, so erkennt man leicht die "directio", d. i. die loxodrome Richtung von A nach B. (Heute läßt sich alles mit einem Vollkreiswinkelmesser viel besser erledigen; gewiß, aber...). 
Im Falle, daß die Entfernung AB gesucht ist, konstruieren wir das "wahre" Kursdreieck: Wir tragen die beiden Orte A, B ins Organum directorium (in die "Kurstafel") ein. Wir kennen oder messen den Kurs gegen Norden. Den Breitenunterschied tragen wir auf dem Äquator von 0 aus ab: E. An OE tragen wir in 0 den Kurswinkel an. Wir errichten in E die Senkrechte, die den freien Schenkel des Kurswinkels in C trifft. OC tragen wir von 0 aus auf dem Äquator ab: D. Die Minuten OD geben die Entfernung AB - in Seemeilen gemessen - an. 

Diese Methode ist allgemeingültig - sagt Gerhard Mercator - , aber nicht immer die praktischste: Sollte der Kurs nahezu östlich gegen 90° (oder nahezu westlich gegen 270°) abgesetzt werden, so ist die Konstruktion von C recht unbestimmt wegen des "schleifenden Schnitts" in C. Gerhard Mercator empfiehlt dafür den Seeleuten dann die Methode der "Ausschöpfung durch die Mittelbreite":

Wir tragen die (dann i.a. kleine) Breitendifferenz AF = D erschöpfend auf AB ab: G, mit AG = n • D. Den Rest GB messen wir, indem wir die Hälfte oberhalb, die Hälfte unterhalb der Mittelbreite m absetzen: G. Es folgt: AB = n • D + G.


Die abschließende Aufgabe, aus "Standort" A, Kurswinkel k und (mit Schätzung: dead reckoning) gemessenem Weg s [sm] die Koordinaten des Zielortes B zu ermitteln, bedient sich wieder der Ähnlichkeit der beiden Dreiecke: "loxodromisches" Mercator-Dreieck, "wahres" Kursdreieck.

Wir tragen auf dem Äquator von 0 aus die in Grad umgerechnete Entfernung s'/60 ab: E. Auf dem freien Schenkel des an OE in 0 angetragenen Kurswinkels tragen wir OE ab: D. Von D aus fällen wir das Lot auf den Äquator: C. Die Strecke OC mißt die „gutgemachte" Breite(ndifferenz), die wir in A betreffend nach oben oder unten antragen: F. Die Parallele zum Äquator durch F schneidet den Kurs in B. Die Länge von B erhalten wir mit Hilfe des Lotes von B auf den Äquator.

13  Steht die Analysis in der Gestalt der Integralrechnung zur Verfügung, so führt die Betrachtung der folgenden Figur 

zu dem Ansatz:
dy = sec (b) · db
dessen Integration über [0 | j] auf
 
y = ln ( tan [ p/4 + j/2 ] )
führt.

14  Die Entwicklung der Land- und Seekarten führte schließlich dazu, daß auch die Geoid-Gestalt der Erde berücksichtigt wurde. C.F.Gauß deduzierte die Formeln für die konforme Abbildung des Erdellipsoids auf den transversalen Zylinder, der also gegenüber dem normalachsigen bei Mercator um 90° gedreht ist, aus den Differentialgleichungen der konformen Abbildung, ohne uns den Weg zu hinterlassen. Louis Krüger, weiland Direktor des Geodätischen Instituts in Potsdam, entwickelte dann in aller Breite die "Konforme Abbildung des Erdellipsoids in der Ebene", Potsdam 1912, und schuf damit die Grundlagen für die "Universale Transversale Mercatorabbildung" (UTM), die man kurz (bei uns) auch als "Gauß-Krüger-Abbildung" bezeichnet. Diese UTM liegt heutigentags allen Satelliten- und überhaupt deutschen geodätischen Landkarten zu Grunde: Eine Feststellung,die als posthume Ehrung Gerhard Mercators angesehen werden darf. 

Hat sein Kartenwerk ihn berühmt gemacht - sein Freund Abraham Ortelius nannte ihn schon 1570 in humanistisch-hochlobender Rede nostri saeculi Ptolemaius, den Ptolemäus unseres Zeitalters - , so hat die Weltkarte von 1569 AD USUM NAVIGANTIUM ihn unsterblich gemacht.
 

  • Gerhard Mercators Weltkarte von 1569 aus dem Blickwinkel des Computer-Zeitalters am Mercator-Gymnasium zu Duisburg: " ... die Loxodrome als Gerade ... ''


Und das Rätsel, das er uns 423 Jahre aufgegeben hat, scheint / ist gelöst.