3 Die Mythen

Da das Wort "Atlas" - schon bei Gerhard Mercator selbst wie in seiner Familie, erst recht aber - in seiner heutigen Verwendung mehrdeutig ist, wollen wir die einzelnen Aspekte im Folgenden wohl unterscheiden:


3.1Atlas sen & jun

In der Praefatio exzerpiert und übernimmt Gerhard Mercator die betreffenden Berichte des Eusebius Pamphilus aus dessen Praeparatio evangelica - d.s. die Fragmente des Philo Byblius (?200 Jh.n.Chr.) aus dessen Übersetzung des Sanchoniathon - und des Diodorus Siculus aus dessen Bibliothecae historiae libri.

In diesen Berichten kommen weniger - was man eigentlich erwartet - die unterschiedlichen Überlieferungen in der Gestalt der Theogenie = "Über die Abstammung der Götter" - also die griechische Mythologie - des Hesiod zum Tragen
- den mythologischen Faden der Theogonie hat Eusebius in sein chronicon, sein von Hieronymus übersetztes und redigiertes Geschichtswerk aufgenommen -,
als vielmehr der Erzählstrang6, der vornehmlich der Phönikischen Geschichte des Sanchoniathon folgt und spätestens seit Diodorus Siculus als Historie - als Real-Geschichte und keineswegs als Sagen-Geschichte  - interpretiert und bewertet wird:
"Aber Iapetos führte das Mädchen Klymene,
das schöne Kind des Okeanos, heim und bestieg das gemeinsame Lager.
Atlas gebar sie ihm, einen Sohn gewaltigen Sinnes,
schenkte den überaus stolzen Menoitios ihm und Prometheus,
schillernd und regsam von Geist, und den Sohn Epimetheus, den Toren,
der von Beginn ein Unglück den brotverzehrenden Menschen."
THEOGONIE
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Atlas senior hatte auch sieben Töchter, welche, nach ihrem Vater, Atlantiden, nach ihrer Mutter aber Pleiaden hießen.
.
"Doch Taygete, die zarte, Elektra mit leuchtenden Augen
und Alkyone, Kelaino und Asterope, die hehre,
Maia und auch Merope, sie zeugte der stattliche Atlas."
EHOIEN
Oder nach der Ableitung Hesiods:
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Anders als in seinem chronicon exzerpiert7 Eusebius in seiner Praeparatio evangelica I,7 die Geschichte der Phöniker des Sa[n]choniat[h]on.
Diesen Exzerpten wie den - aus der gleichen Quelle herrührenden - Berichten des Diodor folgt Gerhard Mercator:
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Atlas, König von Mauretanien und in eine königliche Familie hineingeboren, hatte Terrenus ( oder den 'Eingeborenen' [Sohn des Elius] ) zum Vater - nach dem Zeugnis des Eusebius, ausgezogen aus [den Berichten] altehrwürdiger Geschichtsschreiber.
Er führte auch den Beinamen Caelus ['der Himmlische'].
Seine Mutter war Titea, auch 'Terra' genannt.
Sein Großvater sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits war Elius oder Sol, König Phönikiens, der  mit seiner Gemahlin Beruth in Biblos residierte.
Beide - Vater wie Großvater - waren in ausnehmender Weise bewandert sowohl in der Astronomie als auch in den Wissenschaften von der Natur, so daß sich schon von {der Höhe] ihrer Bildung [in diesen Dingen] her verstand, daß man ihnen die Namen 'Sol' (der Sonnenhafte) bzw. Caelus (der Himmlische) beilegte.
Übrigens ist auch Atlas - wie von den Alten überliefert (vgl. Diodorus 4.Buch,5.Kapitel) - ein äußerst erfahrener Astronom gewesen und hat als Erster über die Himmelskugel gehandelt.
&c 
[Atlas, der Enkel des Elius, Sohn des Caelus, hatte mehrere Söhne; u.a. Hesperus und Atlas. Letzterer wurde nach der Vertreibung seines Bruder Hesperus nach Etrurien im Jahre 738 nach der Sintflut (auch) König von Iberia (später: Spanien). Elius regierte übrigens 662 nach der Sintflut in Phönikien. &c
S.w.u.]
Da Diodorus Siculus die verschiedenen Stränge der phönikisch-griechisch-römischen Überlieferung als förmliche Geschichte und "wirkliche" Historie aufgenommen und dargestellt hatte, konnte Gerhard Mercator nach beiden Gewährsleuten den Stammbaum seines Atlas (des Atlas junior ) - in der Hauptsache der phönikischen Geschichte folgend - wie folgt aufstellen:
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Mit seinem Gewährleuten  macht Gerhard Mercator den Atlas senior der Praeparatio zum Bruder von Saturn = Kronos, Japetus und Hyperion. Daß er ihn auch zum Bruder Dagons macht, zeigt wiederum die Herkunft des Stammbaumes aus der phönikischen Geschichte an.

Wenn man die Erzählstränge nach Hesiod bzw. nach Philo / Eusebius / Diodor zusammenstellt, so erhält man etwa folgende "Misch"Darstellung:

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Diodor sagt III,60, der Vater seines Atlas sei Uranus (Terrenus) oder Coelus gewesen, der seinerseits von dem phönikischen König Sol8 (Elius) abstamme. Elius, der Urgroßvater unseres Atlas, regierte um das Jahr 662 nach der Sintflut. Hesiod erzählt von Japetus, Platon läßt den Kritias9 von Poseidon (Neptun) erzählen.
Eusebius / Diodor sagt, Titea (Terra) sei seine Mutter gewesen.
Nach ihrer Abkunft wurden die Titea-Kinder "Titanen" genannt. Sie bilden die zweite Göttergeneration.
  • "Atlas rex Mauretaniae et regio stemmate natus, patrem habuit Terrenum sive indigenam, ... qui fuit Caelus cognominatus, et matrem Titeam, cognomine Terram. "
Diesen älteren Strang der Überlieferung, den Hesiod nur schwach aufnimmt, benutzt später auch Vico, der allerdings Japetos zu einem Giganten macht: Giganten und Titanen also verwechelt. Prinzipien 61
für Hesiod ist es Klymene gewesen, Plato bringt die Klito ins Spiel der Erinnerungen des Kritias.

Honoratus Maurus Servius (vor 422 n.Chr.) ist in der Lage, in seinen Kommentaren zu Virgil (Commentarii in Virgilium VIII) von drei Atlanten zu sprechen, von 

(a) einem mauretanischen [offenbar: Atlas senior] 
(b) einem italienischen [Atlas junior unterzog sich ja auch der Tutoren-Pflichten des Hesperus nach dessen Tod, die Hesperus nach seiner Vertreibung aus Iberia in Etrurien (jetzt: Toscana) ausgeübt hatte: "quae munia frater eius Atlas post Hesperi mortem suscepit"]
(c) einem arkadischen Atlas [der Perseus/Herkules-Sagen].
Servius bringt auch vor, daß ihre Eigenschaften und Schicksale schließlich und allesamt - nach Diodor - dem mauretanischen beigelegt worden sind, und daß selbst die Verknüpfung mit den Sagen des Perseus (Ovid: Metamorphosen IV) und.des Herkules zu entsprechenden Uminterpretationen geführt habe:
    Diodor III, 60 deutet z.B. die Atlas-Herkules-Begegnung dahingehend, daß der "gute Sternenseher" Atlas (senior), der auch die "Sphäre" - den Himmelsglobus -  erfunden habe,  als "Fachastronom" Herkules in Astronomie unterwiesen habe: Eben dieser Herkules ist es nämlich, der ihm seine wunderhübschen pleiadischen Töchter wiederbrachte, nachdem sie von Häschern des ägyptischen Königs Busiris aus seinem Garten geraubt worden waren. Herkules, der die Ägypter bei einem Mahl am Meeresufer traf, machte kurzen Prozeß mit den Räubern - die Mädchen hatten ihm ihr Leid geklagt -  und führte die Mädchen schnurstracks wieder ihrem Vater zu. (Diodor IV,27) Zum Dank dafür unterwies Atlas den Herkules in Astronomie.

    Ovid meint, Atlas habe den Perseus nicht deshalb nicht beherbergt, weil er ein Hirte und höchst ungastlich gewesen sei, sondern da Perseus aus dem Geschlechte Jupiters gewesen sei, habe er ihn mit Gewalt abgewiesen, denn er wollte nicht die Prophezeiung an sich vollziehen lassen, daß aus seinem Garten von einem aus Jupiters Geschlecht die Goldenen Äpfel entführt würden. "Es sollen hierbey seine Haare und sein Bart in Bäume, die Schultern in die des Berges Gipfel, der Kopf in die größte Höhe, und die Gebeine in die harten Felsen verwandelt worden seyn, alles aber nach der Götter Verordnung einer viel ungemeinern Größe geworden seyn, als es an sich erst gewesen."
    Daß dieser Atlas dann - stets in Nebel gehüllt - seither den Himmel zu tragen scheint, ist des einfachen Volkes Glaube.


Wenn man bedenkt, daß für das Zeitalter Gerhard Mercators immer noch gilt, daß ein Bericht, ein Dokument, eine Historie umso glaubhafter ist, je älter die Texte oder "Sagen" sind, je weiter sie der Gegenwart voraufliegen und von berühmten Männern bezeugt sind:

  • ex antiquissimis historicis testimonium, aus dem Zeugnis ältester Historien
  • ut citant veteres, wie die Alten anführen
  • testatur Diodorus, wie Diodor bezeugt,
  • ut dicat Diodorus, wie Diodor sagt,
  • sic Diodorus, ... soweit Diodor,
so wird verständlich - man vergleiche die Legenden der Weltkarte von 1569 - , daß Gerhard Mercator aus Diodor Geschichte = Historie, nicht Geschichten heraus liest / übernimmt.
Wenn Gerhard Mercator das chronicon bzw. die Theogonie gekannt haben sollte, so sind für ihn aber weder der Atlas, der da bei Strafe Jupiters den Himmel trägt, noch der Atlas, der  in den Berg verwandelt worden ist, der seinen Namen trägt, und also den Himmel trägt - von Ovid oder schon früh von Polydius (er blühte um 420 v.Chr.) in seinen Dithyramben beschrieben - , Peronen der Geschichte = reale Historie. Beide sind ihm - mit Diodor / Pamphylus - Sagengestalten, selbst wenn  der heilige Augustinus dem Zeugnis des  chronicons folgt und Atlas - nennen wir ihn 'senior' - als rex mauretaniae den Bruder des Prometheus sein läßt: "Während Saphrus als vierzehnter König die Assyrer beherrschte, Orthopolis als zwölfter die Sykonier und Kriasus als fünfter die Argiver, ward in Ägypten Moses geboren, der Befreier des Volkes Gottes aus der ägyptischen Herrschaft, einer Prüfung, die dazu dienen sollte, das Verlangen nach der Hilfe des Schöpfers wachzurufen. Unter dem Regiment der genannten Könige hat nach Ansicht einiger Prometheus gelebt, von dem man wohl aus dem Grunde sagt, er habe die Menschen aus Lehm gebildet, weil er ein vorzüglicher Lehrer der Weisheit gewesen sein soll; doch kann man sonst keine Weisen damaliger Zeit ausfindig machen. Sein Bruder Atlas soll ein großer Astrologe [=Astronom] gewesen sein, und das mag der Fabeldichtung Anlaß zu der Behauptung gegeben haben, er trage das Himmelsgewölbe. Doch führt auch ein Berg seinen Namen, dessen Höhe wohl noch besser die Volksmeinung vom Tragen des Himmels erklärt."
Indem Diodor die Fabeln der Alten als Fabeln zurückwies, vollzog sich die Geschichte nach dem Tode Hyperions zufolge Diodor / Mercator wie folgt:
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  • Die Söhne des Uranos  teilten das Reich unter sich auf; die angesehensten waren Kronos und Atlas. Atlas (senior) erhielt die Länder am Okeanos [dem als Ozean personifizierten Okeanos] und nannte die Bewohner Atlanteer, auch dem höchsten Gebirge desselben gab er den Namen.

  • "Tum Coeli[=Terrenus=Uranos] filij, quorum nobiliores Atlas et Saturnus [=Kronos] erant, inter se partiti sunt regna patris, Atlanti loca iuxta Oceanum, et Lybiam usque et fretum Gaditanum contigerunt, ubi mons Atlas et gentes Atlantes ab eo dictae sunt in Mauretania."
     
  • Er [Atlas senior] hatte mehrere Söhne, unter denen einer, Hesperus, sich durch Frömmigkeit, Leutseligkeit und Gerechtigkeit auszeichnete. Dieser verschwand eines Tages ganz plötzlich, von einem Sturm fortgeführt, als er den Gipfel des Atlas bestieg, um die Sterne zu beobachten.

  • "Habuit Atlas plures filios, sed unum pietate ac in subditos iustistia humanitateque insignem, quem Hesperum appelavit, qui cum in Atlantis cacumen ad scrutandos astrorum cursus ascendisset, subito a ventis correptus, nequaquam amplius visus est. SIC DIODORUS ..."
     
    • Das Volk aber - schreibt Diodor seine Hesperus-Legende fort - , den Verlust des Edlen bedauernd, erwies ihm göttliche Ehre und nannte den hellsten Stern am Himmel nach seinem Namen ...
SOWEIT DIODOR..., ABER 
Gerhard Mercator kann dem nicht zustimmen: "sed ego ... regem in Iberia fuisse invenio", er hat herausgefunden, daß Hesperus König der iberischen Halbinsel gewesen ist: von günstigen Winden [von Mauretanien] nach Iberien geführt. Von 'Hesperus' schreibt sich übrigens auch - nach Mercator - der Name Spaniens her: Hispania / Iberia. Hesperus floh nach Etrurien (vertrieben von seinem Bruder) - man schrieb das Jahr 738 nach der Sintflut - , und Atlas (junior) übernahm nach dem Tode seines Bruders Hesperus (auch) dessen erzieherische Aufgaben und könglichen Geschäfte in der Toskana. 

Diesen Atlas - wie sein Bruder Hesperus von ausgezeichneter Erziehung, ausgestattet mit wahrem Menschentum und im Besitze wahrer Wissenschaft - hat sich Gerhard Mercator bei der Ausarbeitung seiner Kosmographie zum Vorbild genommen: "Hunc Atlantem tam insignem eruditione, humanitate ac sapientia virum mihi imitandum proposui."

Ob er ihn aber auch als Erzähler oder Berichterstatter in sein Hauptwerk eingeführt hat, bleibt noch dahingestellt.

Am 4. Juni 1593 schreibt Gerhard Mercator an Vivianus, daß er gedenke, Atlas - junior - in den ersten Band seiner Kosmographie einzubringen, um ihn über die Erschaffung der Welt, über die Astronomie, über die Astromantik, die Elemente und die Geographie handeln (spekulieren, abhandeln) zu lassen.