6 Die Metaphysik der Sonne

Die - ohne die vorstehenden Erörterungen nicht leicht zu verstehende - Lage der Sonne im typus selbst wird von Gerhard Mercator in den Kosmographischen Gedanken "Über die Erschaffung der Pflanzen und Bäume, und über die geistige Substanz" erörtert. 

Seine Vorstellungen - im typus wie in den Kosmographischen Gedanken - sind nur zusammen mit den klassischen Vorstellungen von der Bedeutung und dem Einfluß der Sonne überhaupt zu verstehen.

Lassen wir Gerhard Mercator zunächst selber sprechen. 

Im Kapitel II.12 der Kosmographischen Gedanken heißt es am Ende:

Da nun diese Welt gleichsam ein einziger Körper ist, nach dessen Vorbild - dem Vorbild Gottes - der Mensch wie ein Mikrokosmos geschaffen ist und der Gottes Ebenbild widerspiegelt, ein Körper, der harmonisch abgestimmte Teile, wie z.B. die einzelnen Lebewesen, und eine diesen Teilen ähnliche harmonische Gliederung besitzt, ist es glaubhaft, daß auch die Welt die Sonne als ihr Herz hat, gleichsam als Urbeginn allen Lebens, und das jene ursprünglich, als das Licht erschaffen wurde, einen Anfang gehabt hat und in der Welt innerhalb der Wölbung des Firmaments dasselbe leistet wie das Herz im Menschen, indem sie alles - über der Erde und unter der Erde - mit ihrer Wärme und ihrem Licht belebt, und daß sie deswegen in der Mitte eben jener Welt (wie das Herz im Menschen ein wenig höher) befestigt ist.
Gerhard Mercator beruft sich hier auf Vorstellungen, die u.a. 
  • von den Pythagoräern
  • von Plato im Timaios 
    • Plato läßt in diesem Dialog den Pythagoräer Timaios zu Wort kommen , 
  • von den Stoikern (von den "Alten Physikern") 
  • und in der Folge ihrer Timaios-Auslegung von den Kirchenvätern
  • aber auch noch von den Theologen im Mittelalter
  • oder in der Renaissance z.B. von Pico 
 vertreten worden sind.

Die Vorstellung vom Kosmos als eines beseelten, lebenden Körpers treffen wir in den chaldäischen und ägyptischen Mythen genauso wie in der griechischen Philosophie an:

sie gehört zu den fundamentalen Vorstellungen der Götterlehre (Theologie) aller griechischen und vor-griechischen Zeitalter. 
Vom Timaios und den Vorstellungen der Stoiker her aber ist die Analogie der beiden "Körper", des kosmischen und des menschlichen: des makroskopischen und des mikroskopischen, in die frühe Theologie des Christentums übergegangen.

Schon Cicero (106-43) schrieb in De re publica:

Die Sonne ... [ist] der Anführer und Fürst und Lenker der übrigen Gestirne, die Seele und das ordnende Prinzip der Welt, so groß, daß sie alles mit ihrem Licht erhellt und erfüllt ..., ihr folgen als Begleiter die Bahnen von Merkur und Venus.


Er übernahm damit die Vorstellungen Platos, der in seinem Timaios-Dialog Venus und Merkur die "Begleiter der Sonne" (comites) genannt und von ihr selbst geschrieben hatte: 

Damit es aber ein augenfälliges Maß gäbe für das gegenseitige Verhältnis der Langsamkeit und Schnelligkeit und auf daß die Vorgänge bei den 8 Umläufen im Lichtglanz sichtbar würden, entzündete der Gott im 2. Umkreis, von der Erde ab gerechnet [den Mond hatte er in den 1. Umlauf gesetzt, Venus und Merkur - in dieser Reihenfolge - aber hinter die Sonne gestellt: daher ist die Sonne im 2. Umkreis] , ein Licht an, welches wir eben Sonne nannten, damit es möglichst dem gesamten Himmel leuchte und damit die lebenden Wesen, deren Natur das angemessen erschien, die Zahl besäßen, über welche sie der Um schwung des Selben und Gleichförmigen belehre. ... damit dieses Weltganze dem vollkommenen und denkbaren Lebenden , dessen unvergängliches Wesen nachbildend, so ähnlich wie möglich werde.


Cicero - der Übersetzer und Ausleger des Aratos - läßt de natura deorum den Stoiker Balbus die Reihenfolge:

?-Venus-Merkur-?-Mars-Jupiter-Saturn 
vertreten. Ohne schon eine Entscheidung über die Stellung der Sonne ? herbeizuführen, ist das die ägyptische Reihenfolge  im Timaios. Da Plato die Sonne an die Stelle des ersten Fragezeichens setzt, weicht seine Reihenfolge - die 800 Jahre später von dem Neuplatoniker Macrobius vehement verteidigt wird - von den chaldäischen Vorstellungen der (frühen) Pythagoräer ab, die Ptolemäus in seinem Almagest 9,1 als die "älteren Mathematiker"
apostrophiert und die die Sonne über die Sphären von Venus und Merkur gesetzt hatten.

Balbus kennt nur fünf Planeten, da weder die Sonne noch der Mond für ihn "umherirrende" Gestirne sind: 

infra hanc [Mars] autem stella Mercuri est
der Stern des Merkur kommt [in der Reihenfolge von außen nach innen] nach dem Mars ("unterhalb"), 
und der unterste der fünf Wandelsterne ist der Stern der Venus, der Erde "am nächsten": 
infima est quinque errantium terraeque proxuma stella Veneris.


Über die Stellung der Nicht-Planeten Sonne und Mond trifft Balbus in "seinem" Text keine Entscheidung: Sind beide unter alle Planeten gesetzt:

(a) Erde-Mond-Sonne-{Venus-Merkur}..., 
wie bei Plato? Oder wird zu seiner Zeit die göttliche Funktion der Sonne im Kosmos ~85~ schon als so übermächtig erkannt, daß sie deswegen in der Mitte eben jener Welt (wie das Herz im Menschen: ein wenig höher) befestigt ist: 
(b) Erde-Mond-{Venus-Merkur}-Sonne-Mars-Jupiter-Saturn .


Auch wenn Balbus sagt: 

Er [der Stern der Venus] vollzieht seinen Umlauf in einem Jahr und durchmißt dabei den Tierkreis der Länge und der Breite nach, was die vorigen Sterne [Merkur, Mars, Jupiter und Saturn] ebenfalls tun, doch nie beträgt sein Abstand zur Sonne mehr als zwei Sternzeichen, wobei er ihr bald vorauseilt, bald nachfolgt.
(2,53), dann hat er damit - zusammen mit der Erklärung: der Merkur weiche nie mehr als ein Sternzeichen von der Sonne ab - noch keines wegs eine Entscheidung über das von ihm vertretene astronomische Weltbild herbeigeführt.

Ciceros Entscheidung aber dokumentiert Scipios Traum .

Plinius (23-79) schreibt im zweiten Buche seiner Historia naturalis, 12: 

Die Sonne wird mitten zwischen den Planeten in ausgezeichneter Größe und Machtfülle herumgeführt, sie ist der Lenker nicht nur der Zeiten und der Erde, sondern auch der Sterne selbst. Daß sie völlig der Geist und die Seele der ganzen Welt, der Hauptverwalter der Natur und der Gottheit sei, darf man wohl glauben.


Theon von Smyrna (um 117) kommt in seiner Auseinandersetzung von mathematischen Dingen, die bei der Lektüre Platos nützlich sind, in bemerkenswerter Weise auf die naturmetaphysische Beziehung des "doppelten Herzen" zwischen der Erde und der Sonne zu sprechen: 

Ebenso wie beim Menschen ein Verhältnis besteht zwischen der Mitte seines Körpers und dem Herzen, ein wenig höher: ebenso wenn man von den größten, wertvollsten und göttlichen Dingen, wie von den kleinsten, zufälligsten und sterblichsten Dingen urteilt - wird die Mitte des Weltalls die kalte, unbewegliche Erde sein, aber der Mittelpunkt der Welt, als Lebewesen, wird in der Sonne sein, die in gewisser Weise das Herz des Weltalls ist ....


Macrobius tritt in seinem an seinen Sohn Eustachius gerichteten Commentariorum in Somnium Scipionis a Cicerone descriptum libri II (um 386) ebenfalls als Cicero-Interpret auf (1,20,4f): 

Die Sonne wird Lenker der übrigen Gestirne [genannt], weil sie selbst deren Lauf und Rücklauf innerhalb räumlicher Grenzen regelt; denn für jeden Planeten gibt es bestimmte räumliche Grenzen, die der Planet auf seinem Weg weg von der Sonne erreicht und die er keinesfalls überschreiten darf,' befindet er sich aber wieder auf dem Wege zurück, so daß er einen gewissen Punkt erreicht, so wird dort in seine frühere Richtung zurückgeführt. So regelt die Kraft und Macht der Sonne den Lauf [auch] der übrigen Gestirne in festgesetzten Grenzen. ...
[1,20,7f]: Die Sonne wurde auch als Quelle des himmlischen Feuers bezeichnet - wie ich dir schon berichtete. Es ist nämlich die Sonne im Äther das, was das Herz im Lebewesen ist, dessen Natur es ist, niemals aufzuhören zu schlagen oder dessen zufälliges Aufhören bald das Lebewesen umbringt, weshalb die Sonne die Seele der Welt genannt wird.


Das alles klingt so, als habe MacrobiusTheon (187f), Plutarch (De facie 15,928B-C) und auch Chalcidius (Kommentar 122,100) ausgeschrieben. Und Chalcidius referiert Theon von Smyrna

daß nämlich die Sonne mitten zwischen die Planeten wie das Herz in unserem Körper zwischen Nabel und Kopf gesetzt sei.

Das Verhältnis zwischen der Mitte des menschlichen Körpers und dem Herzen: ein wenig höher ...


das ist Gerhard Mercator
die Erde ist die Mitte, der Nabel der Welt; 
die Sonne aber - das wärmende und belebende Herz, die Seele des Weltalls - ist am vierten Schöpfungstage in der Mitte der Reihe der Wandelsterne und damit des Sternenalls überhaupt vollendet worden: ein wenig oberhalb des Nabels der Welt. 
  • Und genau das belegt der typus Gerhard Mercators.


Im Widmungsschreiben seines Ptolemäus von 1578 an seinen klevischen Landesherrn schreibt er davon, daß er im Laufe der Zeit - von ? 1563 bis ? 1573 - viele staunenswerte Dinge entdeckt habe, nicht nur in der Geographie - erwähnen wir - :

  • 1569 die Projektion der vergrößerten Breiten, 
  • in der Mathematik eine Möglichkeit der annähernden Quadratur des Kreises, 
sondern auch bezüglich des Universums; 
  • vielleicht hat er damit die hier geschilderte naturmetaphysisch-astronomische Beschreibung des Kosmos mit seinen zwei Bewegungsmittelpunkten, dem Nabel der Welt, d.i. die Erde, und der Seele des kosmischen Weltalls, d.i. die Sonne, in Anlehnung an die Sonnenmetaphysik der Alten gemeint? 
Wobei uns dann ein weiteres Mal Gerhard Mercators unterschiedlicher Gebrauch von coelum und mundus plausibel würde: medium coeli = sol, medium mundi = terra.

Im typus stimmen die astronomischen (und mythologischen) Vorstellungen des Aratos /.../... der Aegyptiorum vel Chaldaeorum ratio und ihrer Interpreten mit der schöpfungsoptimistisch begründeten Sonnen-Metaphysik und der gesamten Schöpfungsontologie Gerhard Mercators überein.

Die tragenden Ideen des typus harren seit 1573 nur noch ihrer Ausführung in der ersten Abhandlung des ersten Atlas-Buches, den Kosmographischen Gedanken über die Erschaffung der Welt.


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Ich schließe mit dem Sonnengesang aus J.W.Goethes Faust: 


Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang
Und ihre vorgeschriebene Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mang;
Die unbegreiflich hohen Werke 
Sind herrlich wie am ersten Tag.

*