Zur Didaktik der Mercator-Projektion

Meine Damen und Herren!

1. Setzen wir voraus, daß wir in unserem Unterricht 

  • als Mathematiklehrer daran interessiert sind, über die Elemente der Abbildung der Erde auf die plane Ebene zu unterrichten
oder
  • als Erdkundelehrer den Auftrag haben, über die prinzipiellen Schwierigkeiten, 
    • das Bild der Erde als Karte zu entwerfen, 
zu informieren, um die KARTE didaktisch und methodisch zureichend als ein wesentliches Medium des Erdkundeunterrichts einsetzen zu können.
 
WHAT I CANNOT CREATE, I DON'T UNDERSTAND,

sagt Richard Feyman auf dem Boden eines radikalen Konstruktivismus - den auch ich vertrete.

Die Konstruktion wenigstens eines Kartenentwurfs sollte ein Erdkundelehrer verstehen.

2. Dies hat zur Folge, daß wir uns über die didaktische Probleme eines solchen Unterrichts oder Auftrags im klaren sein müssen, bevor wir an die methodische Umsetzung des didaktisch strukturierten Objektbereichs KARTENENTWÜRFE gehen können.

3. Wir haben uns also zuerst um die didaktische Struktur des Objektbereichs KARTENENTWÜRFE zu kümmern.



Ich gehe davon aus, daß wir 
  • weder heutzutage im allgemeinen als Mathematiklehrer hinreichend viel von den mathematischen Grundlagen der allgemeinen Kartenkunde wissen, 
  • noch daß wir heutigentags in der Ausbildung zum Erdkundelehrer mit den betreffenden Grundlagen ausreichend - wenigstens inhaltlich - bekanntgemacht werden bzw. bekanntgemacht worden sind.


Verschaffen wir uns daher einen ausreichenden Überblick, um erkennen zu können, daß wir

  1. ohne Zweifel: exemplarisch vorgehen müssen, dann aber doch
  2. eine Chance haben, am Beispiel wenigstens eines historischen Nachvollzugs der Geschichte eines Kartenentwurfs das prinzipielle Anliegen der Kartenentwurfslehre methodisch in den Griff zu bekommen.

Die Aufgabe der Kartographie besteht grundsätzlich darin, die Erde unter bestimmten Erhaltungskriterien in die plane Ebene abzubilden.

Um dabei überhaupt eine - unterrichtliche - Chance zu haben, idealisieren wir das Geoid zu einer Kugel:
 

Kugel Þ Ebene
Wir stellen uns die folgenden Fragen:

A. Lassen sich Längen, Entfernungen, Abstände auf der Kugel verhältnisgleich in der Ebene nachbilden? D.h. ist eine betreffende Abbildung "längentreu"? 

  • Teilweise? 
  • Stets?
B. Lassen sich Winkel zwischen verschiedenen Richtungen auf der Kugel - gemessen durch die Winkel zwischen betreffenden Tangenten an die entsprechenden Großkreise der Kugel - identisch in die Ebene projizieren? 
  • D.h. ist die betreffende Abbildung winkeltreu oder konform?
C. Lassen sich Flächen der Kugel so in Flächen der Ebene verwandeln, daß ihre Größenverhältnisse korrekt abgebildet werden und ihre Formen möglichst erhalten bleiben? 
  • D.h. ist die betreffenden Abbildung „flächentreu"?


Bekanntlich lassen sich auf diese Fragen die folgenden Antworten geben:
 

  • Ad A. Es ist unmöglich, eine Kugel unter Beibehaltung der Längenverhältnisse zu "planieren".


C.F.Gauß hat die Unmöglichkeit einer überall längentreuen Abbildung der Kugel in die Ebene mit seinem berühmten THEOREMA EGREGIUM nachgewiesen: Nur Flächen gleichen Krümmungsmaßes lassen sich längen-verhältnis-treu auf eineinander abbilden.
 

Nun hat die Einheitskugel das Gaußsche Krümmungsmaß l, die plane Ebene aber das Krümmungsmaß 0: quod non...


Natürlich: dieser Satz schließt nicht aus, daß für gewisse Richtungen und Kurven die Maßverhältnisse der Kugel identifizierend in die Ebene übernommen werden können.
Derartige Abbildungen werden dann spezifisch "abstands-" oder auch "längen-" oder "abweitungstreu" genannt.
 

  • "Azimutale" Karten haben z.B. solche Eigenschaften. 
  • Die klassische Weltkarte nach Ptolemäus - seine Generalkarte in 2. Projektionsart - hat drei abweitungstreue Breitenkreise.
  • Die von Gerhard Mercator 1578 veröffentlichte Generalkarte besitzt alle 10° abweitungstreue Breitenkreise...
  • Ad B. Wir kennen alle die aus dem Altertum stammende azimutale "stereographische" Abbildung der Kugel auf die Ebene (Hipparch):
Mit recht elementaren mathematischen Mitteln der Darstellenden Geometrie kann sie als winkel- und kreistreu ausgewiesen werden.
Zur Konstruktion von Sternkarten auf Astrolabien wurde sie seit eh und je benutzt:
Ihre winkelerhaltende Eigenschaft hat aber keine sinnvolle Anwendung außerhalb der Astronomie gefunden. (Die von Lietzmann behauptete Seetauglichkeit ist in der Praxis nirgends anzutreffen.)

Eine winkeltreue Zylinderabbildung zu erfinden, stellte sich dem 15. und 16. Jahrhundert als Aufgabe, denn das Kompaß-orientierte Segeln der Entdecker auf hoher See machte eine Karte dieses Typs unbedingt erforderlich.

Wir werden sehen: 

die Lösung der letzten Aufgabe liegt in Mercators Projektion.
  • Ad C. Ohne eigentlich davon zu wissen, hat schon Ptolemäus eine flächenverhältnis-erhaltende Abbildung empfohlen: seine sogenannte "zweite Kegelprojektion" erwies sich im 18. Jahrhundert auf dem Standpunkt der mathematischen Kartenkunde als eine flächentreue Abbildung. Wieder-erfunden wurde seine Projektion im 16. Jahrhundert von Stab - angewandt von seinem Schüler Werner - ; ihre Mathematisierung gelang dem Franzosen Bonne1752.


Eine flächentreue Zylinderabbildung hatte zwar schon Archimedes entworfen, aber da seine Abbildungsvorschriften verloren gegangen sind, kommt dem deutsche Mathematiker Lambert der Ruhm zu, eine erste flächentreue Zylinder-Abbildung konstruiert zu haben.

Lamberts Karte ist im 20.Jahrhundert die Mutter der PETERS-Karten geworden, obgleich Peters davon offenbar nichts weiß - oder nichts wissen will. Später mehr davon.

Teilen wir zunächst den Objektbereich KARTENENTWÜRFE nach den drei implizit schon eingeführten Merkmalen ein :

kegelförmig-azimutal-zylindrisch


 azimutale Spezialfälle : orthographisch

gnomonisch

mittelabstandstreu

flächentreu
  • Es soll uns HIER dabei nicht interessieren, daß aus der Kegelabbildung die beiden anderen Abbildungstypen als Grenzfälle hergeleitet werden können.


Daß Kegel und Zylinder überhaupt als Karten-Zwischenträger benutzt werden können, liegt darin begründet, daß beide Flächen wie die plane Ebene das Gaußsche Krümmungsmaß 0 besitzen.

Unter dem erwähnten dreiteiligen Einteilungsprinzip gliedern sich die Kartenprojektionstypen wie folgt:
 

. azimutal: Großkreise durch den Kartenmittelpunkt
bilden sich geradlinig und winkeltreu ab
1 e[cht] orthographisch Pläne
2e stereographisch winkel- und kreistreu, Sternkarten
3e gnomonisch
echt geodätisch
geradlinige Großkreise: Seekarte
4e mittelabstandstreu Zonenkarten, Stadtkarten
5e flächentreu
Lambert
Polarkarten
. zylindrisch: Breiten- und Längenkreise sind parallele Geraden
6e Marinus - um 100 n.Chr. Seekarten frühen Typs, Zonenkarten
7e Lambert - 1728-1777
Archimedes - 285-212
1772: flächentreu. Äquatorialkarten
8e Mercator - 1512-1594 1569: winkeltreu, geradlinige Loxodromen
. kegelförmig .
9e :l. Ptolemäus abstandtreu mit abweitungstreuem
Breitenkreis

Nimmt man eine weitere Einteilung nach der Linienart der Kartenmeridiane und -parallelen vor, so unterscheidet man ECHTE von UNECHTEN Entwürfen: 
 

  • Sind bei normaler Lage der Entwurfsachse - senkrecht zur Äquatorebene - die Bilder der Längenkreise Geraden und die Bilder der Breitenkreise entweder Geraden oder (konzentrische) Kreise, so heißen die Entwürfe oder Projektionen "echt" [= e], sonst "unecht" [= u]. 
Die echte Abbildungen sind dadurch ausgezeichnet, daß die Längen- und Breitenkreise (bzw. deren Bilder) Hauptverzerrungslinien sind, d.s. Kurven extremaler Längenverzerrung.

Unechte Entwürfe eignen sich für Erdkarten oder auch für große Ausschnitte der Erdoberfläche.

Der bekannteste unechte Entwurf - heute nach Bonne (1752) genannt - hat eine jahrtausendalte Geschichte:
 
 

10 u[necht] 2. Ptolemäus-Projektion, sie wurde im 16. Jahrhundert von Stab wiederentdeckt und von seinem Schüler Werner mehrfach angewandt. Finaeus
benutzte sie unter besonderen
Bedingungen, so daß sie herzförmig wurde. Gerhard Mercator benutzte sie 1538 zu seiner ersten Weltkarte. Es ist einfach eine Frage des Augenpunktes, ob bei ein und derselben Abbildungsart Ptolemäus-Stab-Werner-Bonne-, Finaeus-Mercator- oder Sanson-Flamsteed-Karten  vorliegen..
[Ob GM letztere kannte, ist ungewiß: sie kommt als Südamerikakarte (unsigniert) im Atlas 1606 vor.)
. Stab-Wemer-Bonne kegelförmig
. Bonne - 1752 flächentreu mit längentreuen (konzentrischen) Breitenkreisen
. Sanson - 1600-1667
1650
.
. Flamsteed - 1646-1719 Breitenkreise als Geraden
11 u Mollweide - 1774-1825
1805
zylinderförmig, 
flächentreu, Breitenkreise als Geraden Weltkarten

Wir ziehen sie zum späteren Vergleich mit der LAMBERT-PETERS-Karte heran.

ÜBRIGENS: Ob wir "Entwurf "oder "Projektion" sagen, ist so ziemlich belanglose Deutschtümelei - um sich von den Franzosen zu unterscheiden. "Projektionen" der  Darstellenden Geometrie (mit ihrer Perspektive) vorzubehalten, "Entwürfe" aber der allgemeinen Kartenlehre zuzurechnen, ist mathematisch wenig sinnvoll, da es sich in beiden Fällen - abgesehen von singulären Punkten - um eineindeutige Zuordnungen von Kugelpunkten zu Punkten der Ebene (umkehrbaren Abbildungen) handelt.